Wer braucht schon Deo im ewigen Eis
DER VORFALL
Fragmente aus meinem neuen Roman
Am Anfang war das Wort, fast schon biblisch. Besser gesagt: am Anfang waren drei Worte. Ich las sie und dachte: Geht das denn wirklich? Und weil ich die Antwort nicht kannte, schrieb ich einen Brief mit der Bitte um einen Termin. Die drei Worte die mein Interesse geweckt hatten, lauteten: Befreiung vom Schicksalszwang. Sie standen in einer Anzeige die ich entdeckte, als ich eine auf dem Markt gekaufte geräucherte Lachsforelle auswickelte. Eine geräucherte Forelle auf dem Weg, ihrem Schicksal zu begegnen - auch eine mögliche Antwort auf meine Fragen ans Leben.
Es war Winter als ich den Brief mit der Terminbitte schrieb, die Welt war ruhig und klar. Das Jahr war noch frisch und januarkarg und nachts wenn die Sterne lebhaft funkelten, fragte ich mich, seit wieviel Lichtjahren sie bereits erloschen waren, während ihr Licht immer noch unbeirrt auf der Reise zu mir war. Ich fühlte mich ihnen nah, und der Gedanke an das ersterbende Licht berührte mich seltsam.
An einem dunklen Montagmorgen nahm ich einen Brief mit mir unbekannter Handschrift aus dem Postkasten, ahnte, dass dies die Antwort auf meine Schicksalsfrage war und riss das Couvert auf. Ich las:

Liebe Leonie Walter, vielen Dank für Ihr Vertrauen! Ich kann Ihnen am nächsten Freitag einen Termin um 18 Uhr anbieten, meine Beratung dauert zwei Stunden und kostet 150 €. Ich brauche dafür Ihre Geburtsdaten und die Bestätigung dieses Termins. Ich freue mich sehr auf Sie, liebe Leonie!
Ihr Werner Koch

Unter diesen Zeilen stand in schwungvollen Buchstaben „Der Gladiator fasst seinen Entschluss in der Arena!"

Wie viele Buchstaben habe ich dafür bewundert, für alle Ewigkeit auf dem Papier stehen zu dürfen, so als seien sie Wahrheitskünder! Nichts ist für die Ewigkeit, das Leben sowieso nicht, aber ein Buchstabe ist ewig, sobald er auf dem Papier steht. Hier stand nun mein Seneca Satz. Er hing seit langer Zeit an meiner Haustür und ich nickte ihm Tag für Tag zu, bevor ich die Klinke in die Hand nahm, um mich auf den Weg in meine Welt zu machen. Ab und zu glich dieser Gedanke einem Laserstrahl, aber das fiel mir erst auf, als die Ereignisse sich bereits überschlugen.

Ich spürte mein Herz klopfen und strich mit dem Zeigefinger sanft über die tintenblauen Worte. Es schien an der Zeit, dem Schicksal in die Augen zu sehen und die Augen meines Schicksals gehörten offensichtlich einem Mann namens Werner Koch, seines Zeichens Astrologe und Seneca-Liebhaber wie ich. Das Treffen stand hiermit fest. Freitag, 18 Uhr.

Am Abend suchte ich meine Geburtsurkunde, griff zum Telefon, wählte Werner Kochs Nummer, hörte eine tiefe Stimme, die freundlich darum bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich spreche niemals auf Anrufbeantworter und legte den Hörer auf. Kurz darauf wählte ich erneut, diesmal gewappnet, für die Befreiung vom Schicksalszwang Neuland zu betreten, bestätigte den Termin und nannte meine Daten. Es knackte leise in der Leitung und nach einer kurzen Pause sagte ich langsam: „Ich freue mich auch sehr auf Sie!", nicht ahnend, dass ich nicht auf eine Floskel, sondern auf eine Einladung in die Arena geantwortet hatte.


Es gibt eine Theorie, dass ein aus ganzem Herzen gesprochenes Ja immer auch das Nein in sich führt, weil unsere Welt nachweislich bipolar ist. Demzufolge sind Ja und Nein ebenso untrennbar wie Tag und Nacht, wie Licht und Schatten, wie Yin und Yang, wie Sonne und Mond. Beinhaltet also unser Hier Sein, ebenso unser Nicht Hier Sein?

Ist im Preis für das Glück bereits die Trauer inbegriffen? Bedingt die Geburt den Tod? Oder ist es umgekehrt und wie bei Schüttelreimen egal, was zuerst war? Dabei drängt sich erneut die Geburt der Venus nach vorn. Der Botticelli Venus in der Muschel sieht man ihre Herkunft nicht an. Ich meine mit Herkunft nicht Botticellis künstlerischen Pinselstrich, sondern die durch die griechische Mythologie überlieferte Zeugung dieser Legende der Weiblichkeit. Stellen Sie sich vor, Ihr Bruder kastriert Ihren Vater, weil Ihre Mutter ihn darum gebeten hat. Vermutlich ist bitten das falsche Wort, aber es ist ja spätestens seit Sigmund Freude bekannt, dass Bitten viele Gesichter haben. Danach wirft er die Genitalien seines Erzeugers in hohem Schwung ins Meer und das Wasser schäumt erschrocken auf, als das blutende Stück Fleisch versinkt. Aus diesem rötlichen Schaum werden Sie geboren. Und ich. Und unsere Freundinnen, unsere Konkurrentinnen und auch unsere Töchter.

Ich persönlich finde es schwer vorstellbar, dass man nach so einer Zeugungsgeschichte blütenzart in einer Muschel geboren und von Engeln fürsorglich umflattert wird, deren Hände maßgeschneiderte Kleider aus Samt und Seide halten. Herr Botticelli sah das so und die Astrologen offenbar auch; schließlich haben sie die Schaumgeborene zum Symbol der Liebe, Weiblichkeit und Schönheit berufen. Zeigt sich hier bereits die Kunst des Wegschauens und Ausblendens, die wie ein Spinnennetz die Blicke des Mannes auf das ewig Weibliche trübt?
Diese entkleidete Weiblichkeit, die auf den ersten Blick so lieblich wirkt, tragen wir laut Werner Koch alle in uns, Männer ebenso, wie Frauen. Beziehungstragödien wären demzufolge der schlichte Normalfall, verdeckt die Schönheit der Venus doch lediglich den saftigen Hässlichkeitsfaktor, der Mord und Totschlag als Bodensatz beinhaltet.

Das Sicheldrama stand in hartem Gegensatz zu Kochs Beschreibungen meiner kleinen Meerjungfrau. Während er sie mir ausmalte, erwähnte er beiläufig den Weg der Aphrodite. Sein Tonfall klang dabei so selbstverständlich, als sei dieser Weg allgemein bekannt und weil ich nicht dumm erscheinen wollte, nickte ich wissend. Später schlug ich das Thema im Lexikon nach. Platon vermutete, dass es zwei verschiedene Göttinnen namens Aphrodite gibt: Aphrodite Urania, die Göttin der edlen Liebe und Aphrodite Pandemos, die Göttin der gemeinen Sittlichkeit, und er meinte sinnigerweise auch: „Das Denken ist das Selbstgespräch der Seele."

Werner Koch kannte diesen Satz offenbar nicht, er wirkte durchgehend souverän auf seinem Gebiet und sagte zum Ende der Beratung: „Die Liebe ist die größte Kraft in uns und damit auch im Horoskop. Die Liebe und der Tod!" Wenn er die Ja Nein Regel kannte, hat er ein riskantes Spiel gespielt, das Auge, das mich lächelnd ansah, verriet keinerlei Unsicherheit. Als er später beide Augen auf mich richtete, waren das Ja und das Nein bereits unter uns aufgeteilt.


Die Wahrheit. Entkleidet von den Machenschaften der Menschen, ist sie niemals zu zerstören, was nicht heißt, dass sie sich jedem erschließt. Es gibt einige wenige unverrückbar feststehende Gesetze des Lebens, die durch Menschenhand nicht zu verformen und zu verfälschen sind. Der Heilige Johannes aß auf seinem Gang durch die Wüste Tag für Tag Heuschrecken, während er auf der Suche nach der göttlichen Wahrheit war. Ab und zu fand er einen Johannisbrotbaum, mit dem er sich die trockene geflügelte Kost ein wenig versüßte. Die Kerne des Johannisbrotbaumes sind das naturalisierte Wunder der Wahrheit, egal ob sie in der Wüste Gobi oder auf Mallorca im Garten einer Edelfinca wachsen. Sie sind seit Jahrtausenden immer Nullkommazwei Gramm schwer. Niemals mehr, niemals weniger, unabhängig davon, ob die Sonne scheint, oder der Sturm tobt. Sie sind, was sie sind, und werden es in Tausend Jahren auch noch sein.

Die Menschheit wiegt seit jeher ihre Juwelen in der Maßeinheit des Johannisbrotkernes, der Ceratus heißt und Namensgeber des Karats wurde. Der Kern des göttlichen Baums wiegt die Brillanten und Edelsteine auf, damit wir Schafsnasen wissen, was wir besitzen. Wüssten wir, dass wir die Wahrheit in uns tragen, und damit die Chance auf Erfüllung, wären wir wohl weniger auf Schmuck und Glanz erpicht. So aber laufen wir als mehr oder weniger gut genährte Kokons herum, die wir mit Flitter garnieren, die nichts als ein Spiegel unserer inneren Stumpfheit sind. Außen hui und innen pfui, sagte meine Großmutter immer, die übrigens Johanna hieß.

Leonie Walter und Werner Koch und die Wahrheit. Was ist der Nullkommazwei Gramm schwere Kern dessen, was zwischen uns geschah? Alles ist Energie, diesen Satz habe ich mehr als Tausendmal gesagt, allerdings niemals geahnt, dass ich über Kilometer hinweg spüren und auf etwas reagieren würde, was ein anderer schweigend an mich sendet, um es neutral zu formulieren. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt, was zwischen Koch und mir unausgesprochen seine Wege suchte. Werner Kochs linkes Auge hatte die Antwort. Als es mich durch den Tränenstrom hindurch ansah, erblickte ich sie.


Auszug aus DER VORFALL © 2015 Eva-Christiane Wetterer